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07.01.2013
Jesus am Kreuz (Bild: Stock.XCHNG / Robert Aichinger) Jesus am Kreuz (Bild: Stock.XCHNG / Robert Aichinger)

Januar 2013: Glaube

Was glaubst denn Du?

Hier und heute in Deutschland kann jeder glauben, was er will. Viele von uns besuchen genau einmal im Jahr eine Kirche - zum Weihnachtsgottesdienst. Und sicherlich sagt auch ein regelmäßiger Kirchenbesuch nicht viel darüber aus, was und wie man glaubt. Wir fragen im Januar "Was glaubst du?"

Der "Glaube" ist eine persönliche Sache, würde man denken. Das war nicht immer selbstverständlich. Und auch heute geht es nicht in jedem Land auf der Welt in Glaubensangelegenheiten so tolerant zu wie derzeit in Deutschland. Fundamentalisten beispielsweise gab es schon immer und überall. Und auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche hat sich in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder verändert.

Besonders im Mittelalter spielten Reliquien, also Körperteile oder Gegenstände aus dem Besitz eines verstorbenen Heiligen, eine zentrale Bedeutung im christlichen Glauben. Man erhoffte sich von ihnen Heilung oder Schutz. Jede große Kathedrale oder bedeutende Kirche besaß Reliquien bekannter Heiliger.

Aber auch kleinere Kirchen besaßen Reliquiendepots. Ein besonders gut erhaltenes Depot kann heute im Braunschweigischen Landesmuseum besichtigt werden. Der Fund aus der Kirche von Klein Schöppenstedt, südöstlich von Braunschweig gelegen, ist aufgrund seiner Vollständigkeit und des hervorragenden Erhaltungszustands ein besonderer Glücksfall.

Das Reliquiendepot war in die obere Umfassung der Sakramentsnische eingemauert und wurde bei Arbeiten zur Innenrenovierung der Kirche im März 1984 entdeckt. Das erhaltene Siegel aus braunem Wachs, das auf dem Deckel des Kästchens angebracht war, verrät uns die Identität des weihenden Bischofs: Volrad von Kranichfeld, Bischof von Halberstadt (1254/55-1296), in dessen Diözese Klein Schöppenstedt lag. Wie üblich waren die im Kästchen deponierten Heiligenreliquien in Textilien gehüllt.

Daran wurden kleine Pergamentstreifen (Cedulae) befestigt, die den Namen des Heiligen nennen und so die Reliquien identifizieren. Die Cedulae ermöglichen einen Blick auf den Reliquienbestand: Neben einer Christus- und zwei Marienreliquien werden vor allem eine Reihe von spätantiken Märtyrern wie Laurentius, Mauritius und Pankratius genannt, die als frühe Blutzeugen des Glaubens in der ganzen Christenheit hoch verehrt waren. Die Cedulae sind von unterschiedlichen Händen beschrieben und lassen sich aufgrund der Schrift größtenteils in das 12./13. Jahrhundert datieren.

Eine rationalere Sicht auf das Thema Glaube spiegelt sich in den "Gottesbeweisen" wieder, mit denen Philosophen und Theologen seit Jahrhunderten versuchen, die Existenz (oder auch Nicht-Existenz) eines Gottes zu beweisen. "Es ist Sonntag ich denke daran Gott zu beweisen", so heißt es im Gedicht "Sonntag" von Nora Bossong, zu dem sie selber folgende Anmerkungen verfasst hat:

"Verwendet wurde eine Vereinfachung der Formel, die Richard Swinburne in seinem Buch Die Existenz Gottes nutzte, um die relative Wahrscheinlichkeit einer von einem Gott erschaffenen Welt aufzuzeigen. Hierbei wird die Wahrscheinlichkeit einer solchen Welt, bestehend aus den Elementen e (evidente Tatsachen), k (Wissen) und h (Gott), gegen die Wahrscheinlichkeit einer Welt ohne göttlichen Ursprung (ohne h) gestellt. Laut Swinburne ist letztgenannte noch unwahrscheinlicher. Am wahrscheinlichsten wäre gar keine Welt; wir kommen aber gegen die Evidenz, dass es eine Welt gibt, nicht an."

Mit diesen zwei Anregungen möchten wir euch zu einem besinnlichen bis existenziellen Gedicht über das Thema "Glaube" inspirieren.

Hier könt ihr die aktualisierten Wettbewerbsbedingungen [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrix/1963710/]nachlesen.

Für den Versand eures Gedichts findet ihr hier eine E-Mail Vorlage [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrix/907427/].


Sonntag

Die Vögel in den Bäumen ich nenne sie Krähen
jemand sagt Drosseln sagt Spatzen unfassbar
wie weit man bisweilen mit Worten reicht.
Es ist Sonntag ich denke daran Gott zu beweisen
und durch die Villa Borghese zu streifen aspetta!
P(e/h.k)
P(e/k) das könnte gehen
wobei für e alle Tatsachen stehen
das was ist präziser alles was ist also
die Krähen die Drosseln die Villa Borghese
es ist Sonntag es ist sonnig in der Nacht
kondensierte der Lärm an den Fenstern
das Scharren der Schuhe
das Klingeln des Handys
das Schreien des Mannes: Pronto? Pronto? Pronto?
Auch hierfür stehen noch Beweise aus
doch ich bin neu hier beginne von vorn
und h sei die These dass Gott existiert
wie die Krähen die Drosseln die Villa Borghese
die Ampel an der ich als Einzige halte
während San Sebastiano und San Giovanni
vor mir über die Kreuzung ziehen
ihre Attribute im Schlepptau ich erinnere nicht
für was sie gut sind und k ist bloß
tautologisches Wissen ein Igel
eingerollt vor mir in der Gosse
armes Ding mio Dio und wer hat meine
Beweise schon nötig dringender sollte man
mir aufzeigen ob Finken in den Bäumen sitzen
mit ihren Schnäbeln nach Orangen picken
ob Sonntag ist ob h überhaupt etwas meint

(aus: Nora Bossong, Sommer vor den Mauern, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, Band 18, München 2011. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.)

Nora Bossong geboren 1982 in Bremen.

 (Bild: K. Pauls)

(Bild: K. Pauls)

Nora Bossong studierte Kulturwissenschaft, Philosophie und Literatur an der Humboldt-Universität Berlin, der Universität Leipzig und der Università La Sapienza in Rom (Italien).
Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie mehrere Auszeichnungen, so den Peter-Huchel-Preis 2012, den Wolfgang-Weyrauch-Preis 2007 und den Kunstpreis Berlin in der Sparte Literatur 2011. Zudem war sie Writer-in-Residence an der New York University (USA) sowie an der Universität Nanjing (VR China).

Braunschweigisches Landesmuseum

 (Bild: Braunschweigisches Landesmuseum)

(Bild: Braunschweigisches Landesmuseum)

Mit seinen vielfältigen Sammlungsbeständen und der Gesamtausstellungsfläche in vier Häusern zählt das Braunschweigische Landesmuseum [http://www.landesmuseum-braunschweig.de] zu den größten historischen Museen Deutschlands. Vom Faustkeil bis zum Trabi, vom Kirchenaltar bis zur Atomuhr, von heidnischen Grabbeigaben bis zur Thorarolle, erleben die Besucher 500.000 Jahre Landesgeschichte.

Neben der Ausstellung zur Landesgeschichte im Haupthaus am Braunschweiger Burgplatz bietet das Braunschweigische Landesmuseum eine Ausstellung zur Jüdischen Geschichte und zum Judentum Hinter Aegidien. Hier befinden sich auch die ehemaligen Räume des Aegidienklosters aus dem 12. Jahrhundert. In Wolfenbüttel erwartet den Besucher eine Ausstellung zur Ur- und Frühgeschichte des Braunschweiger Landes.

Am 29. Januar findet im Braunschweigischen Landesmuseum eine Schreibwerkstatt mit Nora Bossong statt. Interessierte Schülerinnen und Schüler aus der Umgebung können sich unter info-lyrix@dadrio.de anmelden.

Die Unterrichtsmaterialien folgen.