Hier und heute in Deutschland kann jeder glauben, was er
will. Viele von uns besuchen genau einmal im Jahr eine Kirche - zum
Weihnachtsgottesdienst. Und sicherlich sagt auch ein regelmäßiger
Kirchenbesuch nicht viel darüber aus, was und wie man glaubt. Wir fragen
im Januar "Was glaubst du?"
Der "Glaube" ist eine persönliche Sache, würde man denken. Das war
nicht immer selbstverständlich. Und auch heute geht es nicht in jedem
Land auf der Welt in Glaubensangelegenheiten so tolerant zu wie derzeit
in Deutschland. Fundamentalisten beispielsweise gab es schon immer und
überall. Und auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche hat sich in
den vergangenen Jahrhunderten immer wieder verändert.
Besonders
im Mittelalter spielten Reliquien, also Körperteile oder Gegenstände
aus dem Besitz eines verstorbenen Heiligen, eine zentrale Bedeutung im
christlichen Glauben. Man erhoffte sich von ihnen Heilung oder Schutz.
Jede große Kathedrale oder bedeutende Kirche besaß Reliquien bekannter
Heiliger.
Aber auch kleinere Kirchen besaßen Reliquiendepots. Ein
besonders gut erhaltenes Depot kann heute im Braunschweigischen
Landesmuseum besichtigt werden. Der Fund aus der Kirche von Klein
Schöppenstedt, südöstlich von Braunschweig gelegen, ist aufgrund seiner
Vollständigkeit und des hervorragenden Erhaltungszustands ein besonderer
Glücksfall.
Das
Reliquiendepot war in die obere Umfassung der Sakramentsnische
eingemauert und wurde bei Arbeiten zur Innenrenovierung der Kirche im
März 1984 entdeckt. Das erhaltene Siegel aus braunem Wachs, das auf dem
Deckel des Kästchens angebracht war, verrät uns die Identität des
weihenden Bischofs: Volrad von Kranichfeld, Bischof von Halberstadt
(1254/55-1296), in dessen Diözese Klein Schöppenstedt lag. Wie üblich
waren die im Kästchen deponierten Heiligenreliquien in Textilien
gehüllt.
Daran wurden kleine Pergamentstreifen (Cedulae)
befestigt, die den Namen des Heiligen nennen und so die Reliquien
identifizieren. Die Cedulae ermöglichen einen Blick auf den
Reliquienbestand: Neben einer Christus- und zwei Marienreliquien werden
vor allem eine Reihe von spätantiken Märtyrern wie Laurentius, Mauritius
und Pankratius genannt, die als frühe Blutzeugen des Glaubens in der
ganzen Christenheit hoch verehrt waren. Die Cedulae sind von
unterschiedlichen Händen beschrieben und lassen sich aufgrund der
Schrift größtenteils in das 12./13. Jahrhundert datieren.
Eine
rationalere Sicht auf das Thema Glaube spiegelt sich in den
"Gottesbeweisen" wieder, mit denen Philosophen und Theologen seit
Jahrhunderten versuchen, die Existenz (oder auch Nicht-Existenz) eines
Gottes zu beweisen. "Es ist Sonntag ich denke daran Gott zu beweisen",
so heißt es im Gedicht "Sonntag" von Nora Bossong, zu dem sie selber
folgende Anmerkungen verfasst hat:
"Verwendet wurde eine Vereinfachung der Formel, die Richard Swinburne in
seinem Buch Die Existenz Gottes nutzte, um die relative
Wahrscheinlichkeit einer von einem Gott erschaffenen Welt aufzuzeigen.
Hierbei wird die Wahrscheinlichkeit einer solchen Welt, bestehend aus
den Elementen e (evidente Tatsachen), k (Wissen) und h (Gott), gegen die
Wahrscheinlichkeit einer Welt ohne göttlichen Ursprung (ohne h)
gestellt. Laut Swinburne ist letztgenannte noch unwahrscheinlicher. Am
wahrscheinlichsten wäre gar keine Welt; wir kommen aber gegen die
Evidenz, dass es eine Welt gibt, nicht an."
Mit
diesen zwei Anregungen möchten wir euch zu einem besinnlichen bis
existenziellen Gedicht über das Thema "Glaube" inspirieren.
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Sonntag
Die Vögel in den Bäumen ich nenne sie Krähen
jemand sagt Drosseln sagt Spatzen unfassbar
wie weit man bisweilen mit Worten reicht.
Es ist Sonntag ich denke daran Gott zu beweisen
und durch die Villa Borghese zu streifen aspetta!
P(e/h.k)
P(e/k) das könnte gehen
wobei für e alle Tatsachen stehen
das was ist präziser alles was ist also
die Krähen die Drosseln die Villa Borghese
es ist Sonntag es ist sonnig in der Nacht
kondensierte der Lärm an den Fenstern
das Scharren der Schuhe
das Klingeln des Handys
das Schreien des Mannes: Pronto? Pronto? Pronto?
Auch hierfür stehen noch Beweise aus
doch ich bin neu hier beginne von vorn
und h sei die These dass Gott existiert
wie die Krähen die Drosseln die Villa Borghese
die Ampel an der ich als Einzige halte
während San Sebastiano und San Giovanni
vor mir über die Kreuzung ziehen
ihre Attribute im Schlepptau ich erinnere nicht
für was sie gut sind und k ist bloß
tautologisches Wissen ein Igel
eingerollt vor mir in der Gosse
armes Ding mio Dio und wer hat meine
Beweise schon nötig dringender sollte man
mir aufzeigen ob Finken in den Bäumen sitzen
mit ihren Schnäbeln nach Orangen picken
ob Sonntag ist ob h überhaupt etwas meint
(aus:
Nora Bossong, Sommer vor den Mauern, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser,
Band 18, München 2011. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Carl
Hanser Verlags.)
Nora Bossong geboren 1982 in Bremen.
Nora
Bossong studierte Kulturwissenschaft, Philosophie und Literatur an der
Humboldt-Universität Berlin, der Universität Leipzig und der Università
La Sapienza in Rom (Italien).
Für ihre literarischen Arbeiten
erhielt sie mehrere Auszeichnungen, so den Peter-Huchel-Preis 2012, den
Wolfgang-Weyrauch-Preis 2007 und den Kunstpreis Berlin in der Sparte
Literatur 2011. Zudem war sie Writer-in-Residence an der New York
University (USA) sowie an der Universität Nanjing (VR China).
Braunschweigisches Landesmuseum
Mit seinen vielfältigen Sammlungsbeständen und der Gesamtausstellungsfläche in vier Häusern zählt das Braunschweigische Landesmuseum
[http://www.landesmuseum-braunschweig.de] zu den größten historischen
Museen Deutschlands. Vom Faustkeil bis zum Trabi, vom Kirchenaltar bis
zur Atomuhr, von heidnischen Grabbeigaben bis zur Thorarolle, erleben
die Besucher 500.000 Jahre Landesgeschichte.
Neben der
Ausstellung zur Landesgeschichte im Haupthaus am Braunschweiger
Burgplatz bietet das Braunschweigische Landesmuseum eine Ausstellung zur
Jüdischen Geschichte und zum Judentum Hinter Aegidien. Hier befinden
sich auch die ehemaligen Räume des Aegidienklosters aus dem 12.
Jahrhundert. In Wolfenbüttel erwartet den Besucher eine Ausstellung zur
Ur- und Frühgeschichte des Braunschweiger Landes.
Am
29. Januar findet im Braunschweigischen Landesmuseum eine
Schreibwerkstatt mit Nora Bossong statt. Interessierte Schülerinnen und
Schüler aus der Umgebung können sich unter info-lyrix@dadrio.de
anmelden.
Die Unterrichtsmaterialien folgen.